Die BaFin hat am 29. April 2020 eine neue Fassung der MaComp veröffentlicht. Damit hat sie ihre Mindestanforderungen an die Compliance Funktion an die ESMA Leitlinien zur Geeignetheitsprüfung aus 2018 angepasst. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Anpassung war, die Erkenntnisse der verhaltensbasierten Finanzmarkttheorie (behavioral finance) zu berücksichten.
Behavioral Finance in den MaComp
Wie üblich gab es ein Konsultationsverfahren. Im Sommer 2017 hat die ESMA ein Konsultationspapier veröffentlicht.
Der Homo Oeconomicus am Kapitalmarkt
Die klassische Kapitalmarkttheorie geht von optimalen Märkten aus. Diese verarbeiten alle verfügbaren und für die Bewertung relevanten Informationen und bilden einen Preis, der Angebot und Nachfrage ausgleicht. Das machen die Märkte natürlich nicht selbst, sondern sie verlassen sich auf die Akteure am Kapitalmarkt, die Preise für Kauf- oder Verkauf von Positionen stellen. Soviel zur Theorie.
In der Praxis läuft es anders. Das hat zu einem guten Teil damit zu tun, dass ein Großteil der Kapitalmarkttransaktionen nicht mehr auf individuellen Anlageentscheidungen, sondern auf Algorithmen (Algo-Trading), Arbitrage und automatisiertem Marktpreis-Risikomanagement beruht. Das erklärt das rasante Tempo, in den Märkte auf unvorhergesehene Entwicklungen oder unerwartete Nachrichten reagieren. Dennoch sind es letztlich Menschen, die hinter den automatisierten Transaktionen stehen.
Individuelle Transaktionen von Kleinanlegern beeinflussen die Märkte nicht. Man macht sie auch nicht für die Finanzmarktkrisen verantwortlich. Aber sie treffen natürlich trotzdem wichtige Entscheidungen. Immerhin geht es um die Anlage ihres Vermögens. Ersparnisse, für die sie in der Regel hart gearbeitet haben. Für sie ist die Geldanlage auch kein Selbstzweck, sondern oft geht es darum, Mittel, die im Moment nicht gebraucht werden, so anzulegen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt verfügbar sind. Sehr oft geht es um Altersvorsorge. Aber es kann sich auch um die Finanzierung eines Studiums oder eine größere Anschaffung handeln.
Professionelle Marktteilnehmer legen ihren Entscheidungen – und vor allem ihrem Risikomanagement – einen mathematischen Risikobegriff zugrunde. Im einfachsten Fall geht es um Varianz oder Value at Risk. Die Komplexität der Risikodefinition – und damit auch der zugrunde liegenden Modelle – kann aber beliebig gesteigert werden.
Homo Oeconomicus oder Homer Simpson?
Menschen haben ein ganz anderes Risikoverständnis. Das fängt schon damit an, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit von ungewissen Ereignissen nicht in dem Umfang in ihre Risikowahrnehmung einfließt, wie es die Formel
Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit * Verlust
erwarten lassen würde.
Die Deutsche Bank Research hat schon 2010 eine Studie veröffentlicht, in der sie die Erkenntnisse der Behavioral Finance für Anlageentscheidungen zusammen fasst. Sie empfiehlt Anlegern und Anlageberatern sich der psychologischen Hindernisse, die eine rationalen Anlageentscheidung entgegen stehen, bewusst zu werden.
Anleger sollten die Fallen kennen, die dazu führen können, dass sie Geld verlieren. Und ihre Berater in die Banken und Sparkassen müssen das ebenfalls beachten. Der nächste Crash kommt bestimmt und dann sind die Vorwürfe und Haftungsprozesse vorprogrammiert.
Regulatorik setzt auf den Homo Oeconomicus
Der Wertpapieraufsicht geht es nicht um individuellen Anlageerfolg. Ihr geht es darum, das Vertrauen der Kapitalanleger nicht zu gefährden. In Anbetracht des Regulierungsansatzes im Kapitalmarktrecht ist das aber keine einfache Aufgabe. Durch Berücksichtigung von Behavioral Finance in den MaComp soll das erreicht werden.
Die Kapitalmarktregulierung geht, ebenso wie die Kapitalmarkttheorie, vom rational handelnden Marktteilnehmer aus, der alle relevanten Informationen sorgfältig auswertet und vernünftige Entscheidungen trifft. Studien haben aber gezeigt, dass die meisten Kleinanleger die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen ignorieren.
Insbesondere der WpHG-Bogen, der eigentlich dazu dienen soll, dem Kunden eine für ihn geeignete, persönliche Empfehlung vorzubereiten, hat sich als nicht effektiv herausgestellt. Die Wertpapieraufsicht kann die Privatanleger aber weder dazu zwingen, seitenlange Risikoaufklärungen verständig zu lesen, noch ist der Privatanleger verpflichtet, gegenüber seine Bank detaillierte Angaben zu machen.
Deshalb verlangt die ESMA von den Wertpapierfirmen, dass sie die Kunden dazu bringen, im wohlverstandenen Eigeninteresse den Beratern die Informationen zu geben, die diese brauchen, um den Kunden richtig beraten zu können. Das erfordert im Wesentlichen zwei Dinge:
- die WpHG-Bögen müssen so gestaltet werden, dass sie den Beratern die erforderlichen Informationen über ihren Kunden verschaffen
- die Wertpapierfirmen müssen sich darüber bewusst sein, welche psychologischen Wahrnehmungs- und Verständnisprobleme eine rationalen Anlageenscheidung ihrer Privatkunden im Wege stehen
Für Behavioral Finance in den MaComp sind die folgenden Passagen relevant
- BT 7.2 Notwendige Vorkehrungen zum Verständnis von Kunden
- BT 7.4 Zuverlässigkeit der Kundeninformationen
Die ESMA hat in den Konsultationen klar gestellt, dass es um die Gestaltung des Vorkehrungen geht, mit denen Wertpapierfirmen die für eine gute Beratung ihrer Privatkunden erforderlichen Informationen einholen.
Behavioral Finance auch in der Beratung?
Es ist aber nahe liegend, dass die selben Effekte auch die Anlageberatung beeinflussen. Die BaFin hat am selben Tag, an dem sie die neu gefassten MaComp veröffentlicht hat, auch eine Konsultation zu BT 6 – Geeignetheitserklärung gestartet. Darin weist sie auf einen engen sachlichen Zusammenhang zwischen der Geeignetheitserklärung und der Geeignetheitsprüfung hin. Es bleibt abzuwarten, ob auf diesem Weg in Deutschland die Erkenntnisse der Behavioral Finance auch in die individuelle Anlageberatung einfließen.
Einen Überblick über alle MaComp Anpassungen habe ich im Juni veröffentlicht.